Poesiealbum von 1846
Diese Zeilen werden um 1846 in ein reich verziertes Poesiealbum geschrieben, das aus zahlreichen Einzelblättern mit Goldschnitt in einer Schachtel besteht. Die Texte – Gedichte, Sprüche und Wünsche - sind in Kurrentschrift geschrieben, die Namen und Orte oft in lateinischer Schreibschrift. Adressiert sind sie an eine Amalie, deren Nachname nicht bekannt ist.
Die meisten Blätter werden im November und Dezember 1846 im niederschlesischen Neusalz an der Oder (heute Nowa Sól in Polen) beschrieben. Die angegebenen Geburtstage, -orte und Nachnamen zeigen, dass viele der Schreiberinnen zwischen 13 und 16 Jahre alt sind und protestantischen Adels- oder Bürgerfamilien, zumeist aus Mecklenburg oder Brandenburg, entstammen. Da die Einträge überwiegend von Mädchen im ähnlichen Alter zur gleichen Zeit geschrieben sind und ein Beitrag von Amalies Lehrerin stammt, lässt sich vermuten, dass Amalie in Neusalz in eine Mädchenschule oder auf ein Mädcheninternat geht und ihre Mitschülerinnen sich in dem Album verewigt haben. In Neusalz befindet sich bis 1945 die Zinzendorfschule, eine Höhere Mädchenschule der protestantischen Herrnhuter Brüdergemeinde. Möglich, dass die jungen Mädchen hier Schülerinnen sind.
Die Ursprünge des Poesiealbums lassen sich im 16. Jahrhundert finden. Wohlhabende Studenten besitzen oft ein so genanntes Stammbuch, in das Kommilitonen und Professoren ihren Namen, Zitate und Wünsche für den Besitzer eintragen. Je mehr Einträge sich im Stammbuch finden, umso mehr Ansehen genießt der Besitzer. Im Laufe der Zeit verbreitet sich der Brauch innerhalb des gesamten Adels und die Einträge werden immer aufwendiger gestaltet.
Das Bürgertum entdeckt diese Alben im 19. Jahrhundert für sich. Sie werden jetzt vor allem von Kindern und Jugendlichen, zumeist Mädchen geführt. Die Alben, häufig Loseblattsammlungen, werden zu reinen Freundschaftsbüchern, gefüllt mit Lebensweisheiten, Gedichten und Sprüchen, und seitdem Poesiealben genannt. Die Seiten sind oft mit kleinen Zeichnungen, getrockneten Blumen oder Haaren geschmückt.
Auch in Amalies Poesiealbum sind einige Seiten mit Blumenzeichnungen und Haaren verziert. Den Eintrag von Selma von Berg ziert sogar ein aus Haaren geflochtener Strauß. Haare von geliebten Menschen aufzubewahren oder Menschen als Liebes- und Freundschaftsbeweis eigene Haare zu schenken, ist ein alter Brauch. Schmuck aus Menschenhaaren, beispielsweise als Armband oder Uhrenkette kommt im 19. Jahrhundert in Mode. Auch in den Poesielaben dieser Zeit lassen sich häufig Locken, Haarkränzchen und Haarstickereien finden.
Heute verteilen Kinder oft sogenannte Freundschaftsbücher an ihre Freundinnen, Freunde, Verwandten und Lehrkräfte. In ihnen sind Rubriken und Fragen vorgegeben, die ausgefüllt werden können. Die Seiten werden weiterhin individuell verziert, beispielsweise mit Aufklebern und kleinen Zeichnungen. Und auch die Bedeutung der Alben hat sich nicht verändert. Die Erlaubnis sich in ihnen zu verewigen, ist weiterhin ein Vertrauens- und Freundschaftsbeweis. Und die Bücher dienen später dem Andenken an die Freundschaften und Personen.
Karin Oelfke (wissenschaftl. Volontärin)