Schulheft mit dem Aufsatz „Wie entsteht Armut?“
Am 24. Mai 1939, knapp vier Monate vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, schrieb ein Schüler aus Friedrichshafen, dessen Name und Alter in dem Heft nicht vermerkt sind, einen Aufsatz mit dem Titel "Wie entsteht Armut?". Im Schulheft folgen in Sütterlin geschriebene Aufsätze über Goethes Faust oder Schillers Wallenstein, so dass davon auszugehen ist, dass das Thema im Deutschunterricht behandelt wurde. Da die Nationalsozialisten großen Wert darauf legten, die Schule und die Unterrichtsinhalte nach ihren Vorstellungen zu formen, sind auch die hier aufgezeigten Antworten zur Entstehung von Armut ideologisch geprägt.
Die in der Überschrift gestellte Frage, wie Armut entsteht, wird in drei Kategorien beantwortet: „I. Unverschuldete Armut“, „II. Verschuldete Armut“ und „III. Frei gewählte Armut“. Letztere bezieht sich hier auf Geistliche wie Mönche oder heilige Büßer.
Die Gründe für die „Verschuldete Armut“ sieht der Aufsatz vor allem im Versagen des Einzelnen wie „Unfähigkeit“, „Verschwendung“ oder auch „Mangel an Hingabe“. Wer in den Augen der Nationalsozialisten nicht genug gelernt hat, in seinem Beruf unbegabt ist oder zu wenig Einsatz zeigt, kann seinen Arbeitsplatz verlieren und in die Armut abrutschen. Das Ziel der Nationalsozialisten war eine völkische Gesellschaft, in der nur Menschen einen Wert hatten, die zur „Volksgemeinschaft“ beitrugen. Diejenigen, die aufgrund rassistischer Vorurteile, anderer politischer Überzeugungen, körperlicher oder geistiger Behinderungen oder ihrer sexuellen Orientierung nicht in der Lage waren, diesen Anforderungen gerecht zu werden, z.B. weil sie keine Anstellung fanden, waren nicht Teil dieser Gemeinschaft. Sie konnten verhaftet, zur Zwangsarbeit gezwungen oder in Konzentrationslager eingewiesen werden. Die Schuldzuweisung an den Einzelnen für sein vermeintliches Versagen lieferte der Bevölkerung eine Rechtfertigung für ihr Wegschauen und unterlassene Hilfeleistungen.
Diese Vorstellungen von Armut und ihren Ursachen sowie die Wertung zwischen „schuldigen“ und „unschuldigen“ Armen sind keine Erfindung der Nationalsozialisten. Bereits die Wirtschaftskrise und die politischen Unruhen in der Weimarer Republik ließen die Bevölkerung mit Missgunst auf die Außenseiter der Gesellschaft blicken - auf die so genannten „Asozialen“, die, so die Rhetorik der Zeit, die Ressourcen und das Wohlwollen der Gesellschaft missbrauchten. Die NSDAP instrumentalisierte diese Ressentiments im Wahlkampf und später in ihrer Propaganda.
Dieser Schüleraufsatz zeigt dies exemplarisch. Ist jemand in den Augen der Nationalsozialisten „unbegabt oder hat nicht genug gelernt“, ist es ein persönliches Versagen, für das die Person auch alleine verantwortlich ist.
Armut kann nur in einer starken Gemeinschaft überwunden werden. Dabei ist es wichtig, das Problem nicht als das Scheitern Einzelner zu sehen, sondern als ein komplexes Geflecht unterschiedlicher Ursachen und Hintergründe. Eine Langzeitstudie des Gesamtverbandes der Arbeiterwohlfahrt (AWO-ISS) aus dem Jahr 2019 zeigt beispielsweise, dass jedes dritte Kind, das in einer einkommensarmen Familie aufgewachsen ist, auch 20 Jahre später in Armut lebt. Für die Bekämpfung von Armut gibt es keine allgemeingültige Lösung. Um langfristige Veränderungen zu erzielen, sind verschiedene Maßnahmen wie der Zugang zu verbesserter Bildung oder die gesellschaftliche Integration armutsgefährdeter Gruppen erforderlich. „Tatkraft, Begabung u. Glück“, wie es in dem Schüleraufsatz von 1939 heißt, reichen allein nicht aus.
Chiara Rees, wissenschaftliche Volontärin
Transkription des Aufsatzes
Wie entsteht Armut? Fr`hafen, den 24.5.1939.
(Ordnungsschema)
I. Unverschuldete Armut:
1. durch Geburt: Man kommt zur Welt als Kind armer Eltern, sich emporzuarbeiten ist schwer. dazu gehört viel Tatkraft, Begabung u. Glück.
2. durch allgemein schlechten Geschäftsgang: Krisenzeiten lähmen den Gang der Geschäfte, das Geld wird knapp, viele Wohlhabende verarmen.
3. durch Krankheit u. Unglück.
II. Verschuldete Armut
1. durch Unfähigkeit: Versteht sein Geschäft nicht, ist unbegabt oder hat nicht genug gelernt, wird ein Opfer gewissenloser Spekulanten.
2. durch Mangel an Hingabe: Es ist einer
a.) von Natur aus begnügten, nachlässig.
b.) durch eine Neigung oder Leidenschaft von der Arbeit abgehalten.
3. durch Verschwendung: hang zum Wohlleben, kostspielige Liebhabereien, Eitelkeit, Mancher verschwendet auch durch Wohltun. Verschwendungssucht (krankhaft)
III. Frei gewählte Armut: Aus religiösen oder Sittlichen Gründen (Diogenes, heilig Büßer, Mönche, Schwärmer)