Dienstag, 01. Juni 2021

Kinderhochrad

Nicht nur am Bodensee ist es deutlich zu spüren: Die Fahrradsaison ist in voller Fahrt. Passend dazu haben wir in der schier unendlichen Sammlung des Schulmuseums ein 90 Zentimeter hohes Hochrad entdeckt. Für wen es gedacht war und ob es gefahren wurde, können Sie hier nachlesen.
Ein kleines Hochrad im Rasen

Herkunft und Alter des Rades sind unbekannt. Zunächst lässt sich vermuten, dass es aus dem 19. Jahrhundert stammt. Recherchen beim Deutschen Fahrradmuseum Bad Brückenau ergaben, dass es sich bei dem Hochrad höchstwahrscheinlich nicht um ein fahrbares Kinderrad, sondern um ein Dekorationsobjekt aus einer späteren Zeit handelt. Doch Hochräder für Kinder gibt es im 19. Jahrhundert tatsächlich. Sie sind sehr kostspielig und werden als Einzelanfertigung für die Söhne wohlhabender Eltern gebaut. Kinderhochräder gelten damals als Statussymbol.

Vor den Hochrädern entstehen andere Vorläufer des heutigen Fahrrads, beispielsweise die Draisine oder das Tretkurbelvelociped. Doch die Erkenntnis, dass größere Räder die Geschwindigkeit erhöhen können, führt 1870 zur Entwicklung des Hochrades. Charakteristisch für Hochräder sind das sehr große Vorder- und das kleine Hinterrad. Der Sattel ist bei den Modellen für Erwachsene in einer Höhe von rund 1,5 Metern auf dem Vorderrad montiert. Das Auf-und Absteigen ist deshalb schwierig und oft nur mithilfe einer Mauer oder einer anderen Erhöhung möglich. Auch ist das Hochradfahren nicht ungefährlich. Die Sitzhöhe und die Ungleichverteilung des Gewichts führen oft zu schweren Stürzen. Hochräder sind sehr kostspielig und werden fast ausschließlich von wohlhabenden jungen Männern als Sportgerät gefahren. Nur sehr vereinzelt setzen sich Frauen aufs Hochrad. Die damalige Mode mit voluminösen Röcken und Korsetts ist nicht für solche Bewegungen ausgelegt.

Weiterentwicklung und der Weg zum Massenverkehrsmittel

In den folgenden Jahren wird das Hochrad weiterentwickelt. So entsteht in den 1880er Jahren das Sicherheitsniederrad, das immer noch das Muster für heutige Fahrräder bildet und bald die Hochräder verdrängt. Mit dem Aufkommen der Niederräder fahren auch mehr Frauen Fahrrad, obwohl das zunächst auf viel Widerstand und Ablehnung stößt. Eine verbreitete Vorstellung damals ist, dass radfahrende Frauen gegen ihre „weibliche Natur“ verstoßen würden. Einige Ärzte warnen davor, dass dies negative Folgen, wie Unfruchtbarkeit und Schädigung des Nervensystems, haben würde.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts werden Fahrräder im Deutschen Reich in größeren Mengen hergestellt und wesentlich preisgünstiger verkauft. Das Fahrrad ist nun auch für Arbeiter und Arbeiterinnen erschwinglich und entwickelt sich von einem teuren Sport- und Freizeitfahrzeug zu einem Massenverkehrsmittel. Auch Fahrräder für Kinder und Jugendliche werden immer populärer. Seit den 1960er Jahren bilden sie eine der Hauptzielgruppen der Fahrradindustrie.

Heute ist das Fahrrad als Sport-, Freizeit- und Verkehrsmittel nicht mehr aus dem Alltag wegzudenken. Selbst die Hochräder sind nicht komplett verschwunden – im Gegenteil: So gibt es beispielsweise eine Hochradfahrschule in Nordrhein- Westfalen, eine Hochradvermietung in Berlin und einige Firmen, die Hochräder produzieren und verkaufen.

Karin Oelfke (wissenschaftl. Volontärin)

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