Die Geschichte der Schulbank
Der folgende Artikel erschien im Dezember 2021 in der Zeitschrift „KulturGut“, herausgegeben von der Stiftung Kreissparkasse Ravensburg. Redaktion Christian von der Heydt, Wirtschaftsmuseum Ravensburg:
„Wen die Götter hassen, den machen sie zum Schulbank-Fabrikanten!“ klagt 1903 Konrad Stetter, der Direktor der Vereinigten Schulbank-Fabriken Berlin (heute VS Vereinigte Spezialmöbelfabriken GmbH & Co.KG Tauberbischofsheim). Der Tanz um die geeignete Schulbank wird spätestens ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eröffnet. Im Schulmuseum Friedrichshafen können Besucherinnen und Besucher in drei historischen Klassenzimmern die Ideen und Erkenntnisse hinter den Konstruktionen nachvollziehen. Denn hier finden sie verschiedene Bankvarianten, auf denen Kinder Anno dazumal das Einmaleins und ABC büffeln.
170 Banksysteme zählt das Lexikon der Pädagogik (Freiburg 1955) für die Zeit um 1890, etwa 350 sogar um 1940. Ein Zeichen, so die Autoren, für die „Unvollkommenheit der Schulbank“. Ein Zeichen aber auch für das Interesse an einer möglichst idealen Ausstattung von Klassenzimmern im Dienste der Gefahrenabwehr. Bedeutet: um die Kinder vor Gefährdungen durch Krankheit, auch und vor allem vor Rückgratverkrümmungen, aber auch vor Disziplin- und Sittenlosigkeit zu bewahren. Die Schule dient lange auch der Gesundheitsaufsicht über die Kinder. Den immer besser ausgebildeten Ärzten fallen Fehlhaltungen und andere gesundheitliche Gefahren, die im Schulbetrieb lauern, auf. Bis in die 1970er Jahre sind die Schulen der Ort für Reihenimpfungen etwa gegen Polio oder Pocken.
Außerdem nehmen Mitte des 19. Jahrhunderts die Geburtenzahlen rasant zu, die Schulklassen auf dem Land und in den Städten werden größer, und der Bedarf an geeigneten Möbeln steigt auch aus diesem Grunde.
Nur wer gut sitzt, ist konzentriert
Nicht allein die Konstruktion der Bänke und damit die Sitzposition der Kinder beschäftigen die Pädagogen, die Kultusbeamten und die Ärzte. Auch die Beleuchtung der Klassenzimmer, ihre Belüftung und Kubatur sowie Lernmaterial und –inhalte werden etwa ab den 1860/70er Jahren intensiv diskutiert. Die Schulzimmer damals werden ausgestattet mit Wandbildern, mehrteiligen Tafeln, Rechenmaschinen und Buchstabierhilfen, mit Spucknäpfen und Feuerlöschern, später mit Projektoren, Landkarten und vielem mehr. Bildung gewinnt an Bedeutung für Technik und Industrie, Militär, Verwaltung oder Wissenschaft. Nur wer gebildet ist, kann teilhaben am Fortschritt und letztlich auch, so sehen wir das heute, an der Demokratie. Und nur wer gut sitzt, kann konzentriert lernen.
Schulbank, auch Subsellium (lateinisch für niedrige Bank) genannt, das meint bis nach dem Zweiten Weltkrieg: Sitz und Tisch sind starr verbunden, ob als Zweisitzer, Viersitzer oder auch früher in kirchenbankähnlicher Konstruktion. Nur die Reformpädagogen um 1900 denken bereits in flexibleren Strukturen, vom Kind und seinen Bedürfnissen aus. Sie fordern natürliche Haltung und Bewegung – und denken damit auch in Einzelstühlen und Tischen. Diese setzen sich aber vor 1945 nicht allgemein durch. Den neuen Ideen stehen vor allem das Beharrungsvermögen vieler Lehrer und Behörden, aber auch die Finanzen und nicht zuletzt Ideologien rund um zwei Weltkriege im Wege. „In Reih und Glied“ hier wie dort.
Bankreihen erzählen Geschichte(n)
Wer die drei historischen Klassenräume im Schulmuseum Friedrichshafen durchstreift, kann die unterschiedlichen Bankkonstruktionen getrost als Zeugen ihrer Zeit und deren Didaktik interpretieren. Die Dorfschule Mitte des 19. Jahrhunderts erzählt von der Armut der Bevölkerung und der Lehre des Notwendigsten. Die Stadtschule im fortschrittsorientierten und militärischen Kaiserreich um 1900 setzt jetzt auf in Seminaren oder Universitäten gebildete Lehrer, auf Drill und Disziplin auch in der Schulbank. Um 1920 schließlich steht freieres Lernen in der Weimarer Republik auf dem Programm, Selbsttätigkeit der Schülerinnen und Schüler – der Gang durch die Geschichte der Bildung führt auch durch die Bankreihen der Klassenzimmer vergangener Epochen, wie sie das Schulmuseum Friedrichshafen zeigt.
Vorbild Kirchenbank
An Kirchenbänke erinnern in der Dorfschule um 1850 die hölzernen Reihen mit ihren schmalen Sitzflächen und abfallenden Tischen. Das Klassenzimmer jener vorindustriellen Zeit ist immerhin als solches ausgewiesen und nicht mehr in den Winkel eines Gasthauses oder die Wohnstube des Lehrers gepresst. Hier drücken mancherorts bis zu 80 und 100 Kinder die Schulbank, alters- und klassengemischt. Da ist die Kirchenbank das rechte Vorbild, um möglichst viele Kinder unterzubringen. Immerhin ist die Schreibfläche geneigt, doch die starren Verbindungen lassen keinen Spielraum. Unterrichtet werden die Kinder von der ersten bis zur achten Klasse von zumeist minder- bis ungebildeten Lehrern, die mit einer kleinen Landwirtschaft oder einem Handwerk ihr Zubrot verdienen müssen. Das schmale Gehalt reicht nicht zum Leben. Die Kinder sitzen beengt auf den durchgehenden Bänken, ohne die Möglichkeit herauszutreten. So eng wie die Bänke auch im Dorfschulraum des Schulmuseums Friedrichshafen stehen, ist an ein Aufstehen zum Aufsagen der Aufgaben kaum zu denken. Schreiben, Lesen, Rechnen, religiöse Erziehung zur Sittsamkeit und die nahrhafte wie die giftige Flora am Wegesrand – sehr viel mehr als das Alltagswissen steht nicht auf dem Lehrplan.
Möbel für das Fortschrittsdenken
Der Bildungsanspruch des nach Weltgeltung strebenden Kaiserreichs (1871 bis 1919) prägt auch die Klassenzimmer. Ihnen sieht man den Fortschrittswillen an, das Bewusstsein, dass ein zentraler Staat gute Verwaltungsbeamte, Ingenieure oder auch gut gebildete Handwerker braucht. Mangelnde Hygiene etwa in den finster-feuchten Hinterhäusern der wachsenden Städte, medizinische Erkenntnisse über ansteckende Krankheiten wie Tuberkulose oder Diphtherie, über Haltungsschäden am Skelett der Kinder, all das wird bei der Ausstattung des Klassenzimmers ebenfalls ernst genommen. Der Fortschritt der Naturwissenschaften und nicht zuletzt Reformansprüche eines neuen Erziehungsdenkens bringen die Experten dazu, um die beste Lösung für die ideale Lernumgebung zu ringen – Möbel inklusive. Übrigens bis heute!
Um das Aufstehen beim Aufsagen des Gelernten in militärisch exakter Haltung und Sprache – „Fünf mal sieben macht 35, Herr Lehrer!“ – zu erleichtern, entwickeln Schulbankhersteller bereits in den 1870er Jahren so genannte Pendelsitze. Wenn sich die Schülerin oder der Schüler erheben, klappt der Sitz nahezu geräuschlos nach hinten. Besonders aufwändig und modern sind solche Bänke, deren geneigte Tischplatten hochgeklappt in Stehpulte verwandelt werden können.
Noch sind es Drei- und Viersitzer. Aber sie markieren bereits einen deutlichen Fortschritt gegenüber der vorindustriellen Dorfschule. Die Lehrerinnen und Lehrer fordern Gehorsam und Disziplin. Wer aufgerufen wird, steht auf, wiederholt die Frage und beschließt seine Antwort möglichst mit einem zackigen „Herr Lehrer“ oder „Fräulein Lehrerin“. Und auf Kommando des Lehrers – „Setzen!“ – nimmt er wieder Platz. Übrigens gilt in jenen Jahren noch weitestgehend das Lehrerinnen-Zölibat. Die Frau, die heiratet, fliegt aus dem Schuldienst. Doch das ist ein anderes Thema…
Die Bänke ordnen die Kinder und Jugendlichen und mit ihnen auch den Unterricht. Schule ist Sitzschule. Unterricht bedeutet bis nach dem Ersten Weltkrieg und darüber hinaus fast immer Frontalunterricht: Auswendiglernen, abfragen, aufsagen – und das alles auf Kommando. Dem Kaiserreich mit seinem ausgeprägten Ordnungs- und Gehorsamssinn passt das gut.
Damit das Kind austreten kann
Mit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert schaffen die Verantwortlichen in vielen Schulen neben jenen oben beschriebenen Systemen mit Pendelsitzen und Stehpulten nun auch Zweisitzer-Bänke mit festem Fußbrett auf Tritthöhe, ein Patent des Architekten und Baubeamten Wilhelm Rettig von 1895. Einerseits sollen die Kinder, wenn sie aufgerufen werden, leichter aus der Bank treten können. Die Lehrer haben zudem jetzt die Möglichkeiten, kontrollierend zwischen den Zweierreihen hindurch nach hinten zu gehen. Und: die ganzen Reihen sind über einen Klappmechanismus zur Seite zu kippen, um den Boden zu reinigen. Hygiene und damit auch ergonomisches Sitzen im Sinne einer den ganzen Körper inklusive Skelett betrachtenden Gesundheitsvorsorge gewinnt immer mehr an Bedeutung.
In „Die württembergische Volksschule von 1914“, einer Übersicht verschiedener Gesetze und Verordnungen, liest man: „Als die Schulbank, die den an sie zu stellenden Anforderungen hinsichtlich der richtigen […] Körperhaltung, des Ein- und Austretens der Schüler, […] der Überwachung der Schüler und Beaufsichtigung ihrer Arbeit am weitgehendsten gerecht wird, ist abgesehen vom Einzelpult die zweisitzige Schulbank bezeichnet.“
Bereits in Meyers Konversationslexikon von 1888 heißt es:
„Beim Schreiben und Zeichnen sollte eine gerade und stramme Haltung überall angestrebt und gewahrt werden. Denn auch die besten Schulbänke helfen nichts, wenn nicht von seiten der Lehrer der Neigung der Kinder zum Schiefsitzen [gegen] gesteuert wird.“
Ärzte und Pädagogen verweisen darauf, dass die schiefe oder zusammengesackte Haltung der Lernenden Unaufmerksamkeit, Ermüdung und orthopädische Schäden nach sich zieht. Immer wieder geht die Fachliteratur darauf ein. Abhilfe schafft weniger die Auflösung der starren Bankreihung, sondern eher die Idee gymnastischer Übungen im Unterricht und vor allem in und auf den Zweierbänken.
Freiübungen in der Schulbank
1913 ist sicher nicht nur dem Königlich Bayrischen Staatsministerium des Innern für Kirchen- und Schulangelegenheiten bewusst, dass eine starre und eingeschränkte Körperhaltung Gift für die gesunde Entwicklung von Skelett und Muskulatur ist. Es verfügt:
„Die richtige Körperhaltung kann nicht ununterbrochen eingehalten werden; der Unterricht ist deshalb so einzurichten, daß die Körperhaltung öfters wechseln kann; auch sollen ab und zu kurze gemeinsame Freiübungen eingeschaltet werden.“
Also wird die Schulbank zum Turngerät, so absurd uns das heute erscheinen mag. Um Fehlstellungen von Rückgrat, Nacken und Co. entgegen zu wirken, empfiehlt der Obmann der Münchner Schulärzte, Dr. Ranke, 1914 in seinem Werk „Tägliche Schulfreiübungen“, die Schulbank zu Dehn- und Streckübungen, natürlich unter strenger korrigierender Aufsicht des Lehrers.
Und eine Schulbank? Gebe es sogar in der ärmsten Dorfschule, so versichert Dr. Ranke. Es werde keine Zeit verschwendet für den Wechsel in einen Turnsaal oder auf den Turnplatz. Die Übungen, so rät der Mediziner, seien als Unterbrechung und Korrektur des schädlichen Sitzens zwischendurch gedacht, nicht als Pausenfüller. Die Pause gehöre den Kindern zur Entspannung. Immerhin!
Dem NS-Regime (1933 bis 1945) ist die Konstruktion der Schulmöbel weniger wichtig als die inhaltliche Durchdringung des Lernstoffes mit seinem Denken. Rüstung und Ideologisierung standen an erster Stelle. Das alte Mobiliar bleibt in den Klassenzimmern stehen. Ausgetauscht werden Lehrmittel vor allem aus inhaltlichen Gründen der ideologischen Mobilmachung.
Flexible Lösungen auf Kufen
Der Tanz um die Klassenzimmermöblierung geht bis heute weiter. Mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges ziehen mehr und mehr flexible Lösungen in die Schulen ein – wenn auch immer noch ganz nach Finanzstärke und Willen der ausstattenden Kommunen. So bleiben die alten festen Bankreihen in vielen Stadt- und Landschulen bis in die 1970er Jahre erhalten.
Ob Frontalunterricht, Gruppenarbeit, freies Lernen oder Lerninseln – heute prägen Stühle und Einzel- oder Zweiertische die Sitzordnungen. Die Stühle sind dank Stahlrohr und Kunststoffen leicht und oft stapelbar, die Tische schnell zu verschieben.
Die Kufenstühle auf zwei Beinen gewähren den Kindern mehr Beinfreiheit, mehr Bewegungsfreiheit. Spätestens mit ihnen ist die Schulbank aus dem Portfolio der Schulmöbelhersteller verschwunden. Sitzordnungen im U, in Blöcken oder Reihenbestuhlung: alles ist jetzt möglich. Neue freiere Lernkonzepte fordern flexible Möbel. Strammstehen und Aufsagen, das enge Denken und die starren Schulbänke des Kaiserreichs sind Geschichte.
Das Lexikon der gesamten Technik von 1904 definiert die Bank als „Sitzgerät, erheblich länger als hoch und tief“. Wie viel mehr steckt doch hinter dieser knappen Beschreibung: Ideen für die Erziehung der Jugend, Kenntnisse über Fehlhaltungen und Krankheiten und immer auch das moderne Bewusstsein, nicht jedem einzelnen Kind gerecht werden zu können. Selbst heute können Einzelstühle nicht auf jeden Körper angepasst werden.
In den Poesiealben der 1960er und 1970er Jahre liest man zwar noch:
„Wenn du einst nach vielen Jahren / dieses Büchlein nimmst zur Hand, / denk daran, wie froh wir waren / in der kleinen Schülerbank.“
Die alte Schulbank ist jedoch längst ausgemustert und bleibt allein für Nostalgiker und Schulhistoriker Zeugin ihrer Zeit.
Dr. Friederike Lutz, Leitung Schulmuseum Friedrichshafen