Das Nesthäkchen
Else Ury wird am 1. November 1877 als Tochter jüdischer Eltern in Berlin geboren. Sie lebt ein für die damalige Zeit normales Leben. Sie führt Freundschaften, geht auf Reisen und teilt mit vielen die Begeisterung für Kaiser Wilhelm II. und das Militär.
Ihre Buchreihe über das Nesthäkchen gehört zur Gruppe der sogenannten „Backfischromane“. So bezeichnet man Kinder- und Jugendliteratur, die speziell an jugendliche Mädchen gerichtet ist und traditionelle Frauenbilder
verstärkt. Zwar ist Nesthäkchen mutig und modern, jedoch werden ihr geschlechtsstereotype Eigenschaften zugeschrieben. Außerdem werden klassische Rollenbilder in den Romanen über sie unhinterfragt festgeschrieben.
Der erste Band der beliebten Kinderbuchreihe trägt den Titel „Nesthäkchen und ihre Puppen“. Er spielt in der Zeit des deutschen Kaiserreiches (1871 bis 1918) und beginnt die Geschichte der Arzttochter Annemarie kurz nach ihrem sechsten Geburtstag. Der letzte Band der Reihe „Nesthäkchen im weißen Haar“ erscheint 1928 und erzählt von der Geburt ihres ersten Urenkels. Die Leserinnen können das Leben Nesthäkchens rund um ihren Schulalltag, das Familienleben aber auch Krankheit und Liebeskummer bis hin ins hohe Alter verfolgen.
In der Handlung der Romane finden auch die politischen Einflüsse der Zeit ihren Platz. Else Ury sieht sich selbst als patriotische kaisertreue Deutsche. Der vierte Band heißt dementsprechend „Nesthäkchen und der Weltkrieg“ und spielt 1914 zu Beginn des Ersten Weltkriegs – inklusive der Begeisterung für Kaiser, Armee und Vaterland. Ihre politische Gesinnung passt sich der Zeit an: später ist die Autorin zunächst von den propagandistischen Ideen der Nationalsozialisten überzeugt.
Nachdem 1935, zwei Jahre nach der Machtübernahme, jüdische Autoren und Autorinnen aus dem Verband der Schriftsteller ausgeschlossen werden, ist auch Else Ury mit dem Berufsverbot belegt. Während viele ihrer jüdischen Verwandten bereits das nahende Unheil erahnen und das Land verlassen, vertraut sie auf die deutsche Bevölkerung und sieht keinen Grund, aus Deutschland zu fliehen. Später muss sie in ein so genanntes Judenhaus umziehen und erhält 1943 schließlich den Deportationsbescheid.
Am 12. Januar 1943 steht ihr Name auf einer Transportliste mit Berliner Juden und Jüdinnen, die in das Konzentrationslager Auschwitz deportiert werden. Hier kommt sie am 13. Januar an und wird vermutlich direkt von der Rampe in die Gaskammer geführt.
Else Ury ist nicht vergessen: „Nesthäkchen“ ist auch heute noch – wenn auch in überarbeiteter Form – im Buchhandel zu finden.
Nach 1945 wird der Band „Nesthäkchen im Weltkrieg“ vom Verleger aufgrund der als kriegsverherrlichend eingestuften Inhalte eingestellt. Die restlichen Geschichten werden modernisiert und die Sprache und der Inhalt angepasst. Im Jahr 2014 wird der zuvor verbotene vierte Band neu aufgelegt, 100 Jahre nach der Veröffentlichung. In der DDR werden alle Bände von Else Ury mit der Begründung verboten, dass sie „dekadente“ Verhältnisse widerspiegeln würden.
Susanne Appl (wissenschafliche Volontärin)